Verfasst von: ah | August 19, 2021

Berlin: Sozialisierung ist kein Selbstzweck

Spätestens mit der Übergabe von knapp 360.000 Unterschriften für einen Volksentscheid zur Sozialisierung der Wohnungsbestände großer privater Unternehmen hat die Initiative „Deutschen Wohnen & Co. enteignen“ die Debatten über eine „Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung“ nach Artikel 15 des Grundgesetzes auf die Tagesordnung gesetzt. Eine Arbeitsgruppe von Expert*innen aus den Bereichen Wohnungspolitik, Sozialpolitik, Wohnungswirtschaft und Öffentliche Finanzen hat nun in eine „Fachliche und politische Beurteilung des Vorhabens zur Sozialisierung größerer Wohnungsbestände“ veröffentlicht und verschiedene Modelle der Entschädigung vorgeschlagen.

Eine zentrale aber entscheidende Frage des Vergesellschaftungsvorhabens ist die Höhe der Entschädigungssumme, die den Unternehmen für die etwa 240.000 Wohnungen gezahlt werden muss. Wird der Betrag zu niedrig angesetzt, haben Klagen gegen die Enteignung sicher höhere Aussichten auf Erfolg – werden die Kosten zu hoch angesetzt, gerät der Sozialisierungszweck in Gefahr, weil hohe Entschädigungszahlungen sich nicht aus einer sozialen Bewirtschaftung refinanzieren lassen.

Juristische Einigkeit besteht darüber, dass die Regelung der Entschädigungshöhe sich an den Vorgaben von Artikel 14 des Grundgesetzes zu orientieren haben und unter einer „gerechten Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ zu bestimmen sind.

Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. (Art. 14 (3) GG)

Ein Entschädigung zum Marktwert der Immobilien, wie sie etwa in der Stellungnahme des Senats zum Volksbegehren vorgeschlagen wird, schließt einen Abwägungsgedanken de facto aus. In der Arbeitsgruppe wurden daher verschiedene Modelle diskutiert und durchgerechnet, die eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung berücksichtigen.

Zwei Ansätze fragen danach, ob es bestimmte Entschädigungshöhen gibt, die aus der Perspektive der Unternehmen nicht unterschritten werden dürfen, um die Interessen der betroffenen Unternehmen in der Abwägung angemessen zu berücksichtigen.

  • Modell Finanzierungsverpflichtungen (Entschädigung in Höhe der bestehenden Verbindlichkeiten): Der Ansatz geht davon aus, dass durch eine Entschädigung die bestehenden Finanzverbindlichkeiten der zu sozialisierenden Unternehmen gedeckt oder übernommen werden. (22,8 Mrd. €)
  • Modell Eigenleistungsentschädigung (Entschädigung auf der Basis von Kaufpreisen und Investitionen): Der Ansatz geht davon aus, dass im Zuge einer Entschädigung die tatsächlichen Ausgaben für den Erwerb der Immobilien und Investitionen in die Wohnungsbestände ausgeglichen werden. Für alle investiven Ausgaben wurde eine Verzinsung von 4 Prozent p. a. berücksichtigt. (15,9 Mrd. €)

Zwei andere Ansätze fragen danach, welche Entschädigungssummen das Sozialisierungsziel einer dauerhaft sozialen Bewirtschaftung ermöglichen:

  • Modell Ertragswertsverfahren (Entschädigung nach einer vereinfachten Ertragswertberechnung): Der Ansatz geht davon aus, dass eine Entschädigung in Höhe der Ertragswerte auf der Basis der für vergleichbare Bestände üblichen Miethöhen erfolgt. Als Referenz wurden die Mieterträge der landeseigenen Wohnungsunternehmen herangezogen. Als Vervielfältiger der Jahresnettomieteinnahmen wurde das 15-Fache eingesetzt. Dabei haben wir uns an den üblichen Kalkulationen der landeseigenen Wohnungsunternehmen in Berlin orientiert. (16,9 Mrd. €)
  • Modell Soziale Bewirtschaftung (Entschädigungen bei Refinanzierung mit sozialer Bewirtschaftung): Der Ansatz geht davon aus, dass der Entschädigungsbetrag bei einer sozialen Bewirtschaftung aus den Mieterträgen refinanziert wird. Aus verschiedenen Vorschlägen zu einer sozialen Bewirtschaftung (leistbare Miethöhen, Mietendeckelwerte, Leistbarkeit bei WBS-Einkommen) wurde für die Kalkulation der Entschädigungshöhe eine Durchschnittsmiete von 5,00 €/m² (nettokalt) angenommen (14,5 Mrd. €)

Im Unterschied zu den Ableitungen von möglichen Entschädigungssummen aus den gegenwärtigen Marktwerten (die ja nichts anders sind, als die in Preisen ausgedrückten Erwartungen künftiger Mietsteigerungen) basieren die vier vorgestellten Modelle auf konzeptionellen Vorüberlegungen und begründen die jeweiligen Entschädigungshöhen, statt sie lediglich aus fiktiven Ertragserwartungen (Marktpreisen) abzuleiten.

Die Entschädigungssummen der vier vorgestellten Modelle liegen alle deutlich unter den Kostenschätzungen des Senats. Die Studie zeigt darüber hinaus, dass bis zu einer Entschädigungshöhe von etwa 17 Mrd. € eine Refinanzierung (ohne Mieterhöhungen und zusätzliche Finanzierungsmittel) aus den laufenden Mieteinnahmen möglich ist.

Fazit: Da das Interesse der Allgemeinheit an dauerhaft leistbaren Wohnungen (Sozialiseirungszweck) zwingend in die Abwägung einbezogen werden muss, ist eine Entschädigung deutlich unter dem aktuellen Marktwert nicht nur rechtlich möglich, sondern auch geboten.

Volltext der Studie: AG Sozialisierung 2021: Fachliche und politische Beurteilung des Vorhabens zur Sozialisierung größerer Wohnungsbestände

Zusammenfassung der Studie: Tagesspiegel (19.08.2021): „Soziale Wohnungspolitik gibt’s nicht umsonst“ (Gastbeitrag von Sebastian Gerhardt und Andrej Holm)

Pressebeiträge:

Tagesspiegel (19.08.2021): Enteignungsinitiative in Berlin Entschädigung an „vergesellschaftete“ Firmen soll zwischen 14 und 23 Milliarden Euro kosten

taz (19.08.2021): Entschädigung der Wohnungskonzerne: Das kann doch nicht die Welt kosten


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