Verfasst von: ah | September 22, 2010

Crashkurs: Wohnungsökonomie

Gestern war ich zu einer Veranstaltung der Diakonie Hamburg „Hamburg wächst – alle dabei?“ eingeladen und durfte als Veranstaltungsinput einen kleinen Rundumschlag zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung vortragen.

Der Fragekatalog der Veranstalter hätten sicher für ein komplettes Seminarprogramm gereicht:

  • Nach welchen ökonomischen Regeln funktionieren Wohnungsmärkte in unserer Gesellschaft?
  • Wie unterscheiden sich Wohnungsmärkten von anderen Märkten?
  • Welche Akteure spielen auf den Wohnungsmärkten welche Rolle? (Grundbesitz, Investoren, Eigentümer, Wohnungsbaugesellschaften, Staat, Städte, Mieter)
  • Welche Gruppen von Wohnungssuchenden werden aufgrund der Funktionsweise der Wohnungsmärkte systematisch benachteiligt
  • Welche politischen Handlungsmöglichkeiten gibt es (insbesondere Handlungsspielräume für Kommunen), um diese Benachteiligungen abzufedern? (Rolle von Bund, Land, Stadt, Interessensverbände, Soziale Bewegungen)
  • Lässt sich die Wohnungsversorgung anders als über den Markt lösen?

Letztendlich sind es 25 kompakte Minuten geworden. Für alle, die sich einen Überblick über die Themenbereiche verschaffen wollen, gibt es hier mein Vortragsmanuskript.

Anmerkungen zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung

Vortragsmanuskript von Andrej Holm für die Veranstaltung Hamburg! Gerechte Stadt. | Hamburg wächst – alle dabei? am 21.09.2010 in Hamburg (centro sociale)

Der weit verbreitete Begriff des Wohnungsmarktes deutet auf eine Organisation der Wohnungsversorgung unter den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie. Wie andere Waren unterliegt der Wohnungsbau und die Wohnungsbewirtschaftung damit makro- und mikroökonomischen Rationalitäten. Daraus können einige grundsätzliche Überlegungen abgeleitet werden.

1. Wohnungen haben einen Doppelcharakter als Gebrauchs- und Tauschwerte

Der Doppelcharakter von Waren zugleich Träger von Gebrauchs- und Tauschwerten zu sein, trifft auch für die Wohnungsversorgung zu. Während der Gebrauchswert („Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert“) Aspekte wie die Größe, Qualität und Ausstattung einer Wohnung umfasst – drückt sich der Tauschwert über den Verkaufspreis bzw. die Gewinnspannen der Wohnungsvermietung bestimmt.

Anders als in den Annahmen zur Warenproduktion bestimmt sich der Wert einer Immobilie nicht über den Produktionspreis der zu ihrer Erstellung „gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ (MEW 23: 53), sondern wesentlich über externe Bewertungsfaktoren wie der Lage, dem Wohnungsmarktsegment oder der Knappheit des Angebots. Steigende Mietkosten ohne Aussattungsverbesserungen etwa werden von vielen Bewohner/innen als auseinanderklaffende Schere zwischen Gebrauchswert und Tauschwert empfunden. Während Mieter/innen vor allem an einer Verbesserung der Gebrauchsqualitäten ihrer Wohnungen interessiert sind, orientieren sich ökonomisch rational handelnde Eigentümer/innen an der Maximierung der Mieteinnahmen bzw. Verkaufspreisen.

Diese Konstellation kann als grundlegendes Widerspruchsverhältnis zwischen Mieter/innen und Eigentümer/innen interpretiert werden. Dieser Antagonismus wird durch eine Reihe von gesetzlichen und adminisitrativen Rahmenbedingungen (Mietrecht, Baurecht, Wohngeld etc.) reguliert aber nicht aufgehoben.

2. Wohnungen sind zinstragende Kapitalanlage

Aus einer ökonomischen Perspektive stellen sich Immobilien als zinstragendes Kapital – vergleichbar mit einer Finanzanlage – dar (Brede/Kohaupt/Kujath 1975:24 ff.). Wegen der hohen Erstellungskosten von Wohnungen oder auch Bürogebäuden zirkuliert der Wert von Immobilien „in eigentümlicher Weise“ (MEW 24: 160). Anders als beim Verkauf eines Autos oder einer Waschmaschine wird der Wert nicht auf einmal und vollständig, sondern „allmählich und bruchweise“ übertragen. Dadurch bleibt das investierte Kapital über lange Zeit in den gebauten Strukturen fixiert – und kann dadurch eben nicht sofort wieder investiert werden. Diese zeitliche Verzögerung des Kapitalumschlags wird durch Zinsen ausgeglichen.

Diese Ökonomie des Wohnungsmarktes hat enorme Folgen Denn ein solcherart organisierter Wohnungsbau konkurriert immer mit anderen Anlageoptionen (Sparbuch, Aktion, Schiffscontainer) und erst wenn die durchschnittliche Verzinsung höher als in anderen Bereichen ist, lohnt sich eine Investition in den Wohnungsmarkt. Auber auch innerhalb des Wohnungsmarktes weisen verschiedene Teilmärkte unterschiedliche Gewinnaussichten auf, so dass in der Tendenz v.a. in die profitablen Bereiche der Wohnungsversorgung investiert wird. Preiswerte Mietwohnungsbestände gehören in der Regel nicht dazu. Aus der ökonomischen Struktur der Grundrenten heraus kann erklärt werden, warum es einen systematischen Mangel an preiswerten Wohnungsgelegenheiten gibt.

Die Struktur des Immobilienökonomie als zinstragendes Kapital führt aktuell zu dem (nur) scheinbaren Paradox, dass auf dem Höhepunkt der Finanzkrise verstärkt in den Immobilienmarkt investiert wurde (weil die Anlagen ins sogenannte Beton-Gold als relativ sicher galten). Auch das wohnungswirtschaftliche Geheimnis der Gentrification lässt sich mit dem Zinscharakter der Wohnungswirtschaft erklären: Investitionen in Modernisierungsmaßnahmen versprechen eben dort die höchsten Gewinne, wo die Ertragslücken am höchsten sind – also in den Gebieten, die aus wohnungswirtschaftlicher Sicht die geringsten Restnutzwerte aufweisen (und damit i.d.R. Die niedrigsten Mietpreise). Verdrängung wird dann nicht zu einem ungewollten Nebeneffekt der Investition, sondern zur Voraussetzung der Investitionsstrategie.

3. Wohnungsmärkte sind ‚unvollkommene Märkte‘


Wohnungsmärkte weisen neben den langen Reinvestitionzyklen einige weitere Besonderheiten auf, die zu eingeschränkten Allokationseffekte führen (Krätke 1995: 194 ff.): Insbesondere die Immobilität des Wirtschaftsgutes ‚Wohnung‘, die beschränkte Reproduzierbarkeit (Wohnung als knappes Gut) und die externen Preisbildungsfaktoren (z.B. Preise weniger von den wohnungsbezogenen Qualitätskriterien, als von Lagemerkmalen bestimmt) weisen den Wohnungsmarkt als ‚unvollkommen Markt‘ aus.

Im Verglich zu idealtypischen Marktmodellen sind Wohnungsmärkte durch

  • mangelnde Transparenz (Aufspaltung in Teilmärkte erschwert vollständige Marktübersicht und führt zu Monopolstellungen),
  • geringe Anpassungselastizität (lange Produktionsdauer und Restnutzungsdauern verzögern die Anpassung an veränderte Nachfragestrukturen)
  • Vorhandensein persönlicher Präferenzen (Benachteiligung/Bevorzugung entlang außerökonomischer Kriterien)
  • fehlende sachliche Gleichartigkeit der Güter (Aufspaltung in regionale, sachliche, mietrechtliche Teilmärkte)

Die oft betonten Verteilungsfunktionen des Marktes wirken im Bereich der Wohnungsversorgung nur sehr eingeschränkt – deshalb die Rede vom ‚unvollkommen Markt‘ bzw. vom ’systematischen Marktversagen‘.
Darüber hinaus würden aber auch funktionstüchtige Verteilungsfunktionen des Wohnungsmarktes das Problem der ’sozialen Blindheit‘ nicht überwinden. Denn auf Märkten zählen nicht Bedürfnisse und Bedarf sondern die Nachfrage – Obdachlosigkeit wäre dann keine Versorgungslücke im ökonomischen Sinn, weil es ja keine zahlungskräftige Nachfrage gibt.

4. Die Wohnungsversorgung ist in der Hand von Immobilien-Verwertungs-Koalitionen

Doch der Wohnungsmarkt wirkt nicht einfach aus seiner ökonomischen Logik heraus, sondern wird auch ‚gemacht‘. Das Wohnungswesen ist ein hochkomplexes System, dass nur im Zusammenspiel verschiedener Akteure funktioniert. So setzt ein städtischer Wohnungsmarkt die Kooperation von Grundeigentümern, finanzierenden Banken, Architekten und Stadtplaner/innen, der Bauwirtschaft und i.d.R. der Stadtverwaltungen voraus. Politische und administrative Rahmenbedingungen wie etwa die Steuergesetzgebung, das Bau- und Mietrecht, Denkmalschutzbestimmungen und Förderprogramme haben einen wesentlichen Einfluss auf die Investitionsaktivitäten.

All die benannten Akteursgruppen haben ein gemeinsames Interesse an der Bodenverwertung der Stadt und müssen sich auf ein gemeinsam geteiltes Programm des Wohnungsbaus einigen. Die dominierende Orientierung auf die Errichtung von Eigenheimen an den Stadträndern in den 1960er und 1970er Jahren steht ebenso wie die Hinwendung zu Stadterneuerungsprogrammen in den 1980er und 1990er Jahren für die Konstitution solcher „Interessenblöcke“ (siehe Bodenschatz 1987: 10). Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive können wir in Anlehnung an die städtischen Wachstumskoalitionen (Logan/Molotch 1987) von lokalen Immobilien-Verwertungs-Koalitionen sprechen. Während das Interesse von Eigentümer/innen, Banken und der Bauwirtschaft v.a. wirtschaftlich begründet werden kann, ist die aktive Rolle von Stadtregierungen vor allem über Strukturen der Klientelpolitik und eine zunehmend unternehmerische Orientierung von Stadtpolitiken (Harvey 1989; Brenner/Theodore 2002) zu erklären. Gerade in Zeiten der internationalen Standortkonkurrenz gibt es wohl keinen schlimmeren Vorwurf an die lokale Politik als ‚investitionsfeindlich‘ zu sein. Die naive Hoffnung auf nach unten durch sickernde Wohlstandeffekte eines Wirtschaftswachstums ist bis weit in sozialdemokratischen, grüne und linke Politikauffassungen verbreitet.

Im Rückgriff auf den beschriebenen Doppelcharakter der Ware Wohnung kann in den Städten ein Interessengegensatz zwischen der an den Tauschwerten orientierten Immobilien-Verwertungs-Koalition und den an Gebrauchswerten orientierten Bewohner/innen angenommen werden. Ein Beispiel: während Bauherren, Banken und Bauwirtschaft von steigenden Bodenpreisen und Wohnkosten profitieren, sind Mietsteigerungen bei der Mehrheit der Bewohner/innen eher unbeliebt.
Doch die hier beschriebene Interessenkonstallation ist von einer enormen Ungleichverteilung von Macht geprägt. Währen die eine Seite institutionell vernetzt ist und über wesentliche ökonomische, fachliche und politische Ressourcen verfügt, ist die gemeinsame Artikulation von Interessen der Bewohner/innen erheblich schwieriger.

5. Systematische Benachteiligung auf Wohnungsmärkten

Die Folgen dieser ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der Wohnungsversorgung bewirken eine zunehmende soziale und räumliche Polarisierung in den Städten. Insbesondere der Zugang und die Qualität der Wohnungsversorgung wird einer Abhängigkeit der ökonomischen Ressourcen der Bewohner/innen unterworfen.

So führen freifinanzierte Neubauten und Modernisierung regelmäßig dazu, dass die besseren (neuen) Wohnungen den höchsten Preis haben und ärmere Haushalte an die älteren, meist preiswerteren und oft schlechteren Wohnungsbestände verwiesen werden. Auch unabhängig von den sozialen und emotionalen Kosten einer Verdrängung aus angestammten Nachbarschaften führt diese Struktur zu der Herausbildung eines Zweiklassenwohnens: Reiche wohnen wo sie wollen – Arme wo sie müssen.

Der durch den Markt systematisch hervorgerufenen Mangel an preiswerten Mietwohnungen verschärft sich durch die wachsende Konkurrenz in diesem Teilsegment des Wohnungsmarktes. So hat beispielsweise in vielen Städten durch die demografischen Veränderungen (Zunahme der Kleinsthaushalte) die Nachfrage nach kleinen Wohnungen erheblich zugenommen. Effekt dieser erhöhten Nachfrage sind die deutliche steigenden Mieten bei den Neuvermietungen.

Im Zusammenhang mit systematischen Benachteiligungen beim Zugang zur Wohnungsversorgung sind auch diskriminierende Praktiken von Wohnungsverwaltungen und Eigentümer/innen bei der Wohnungsvergabe zu nennen. So zeigen Studien aus verschiedenen Städten, dass nicht-deutsche Wohnungsbewerber/innen in einigen Stadtteilen (unabhängig von ihren Einkommenssitutionen) bei der Wohnungsvergabe benachteiligt werden. Auch Hartz-IV-Haushalte sind durch die beschränkte Übernahme der Unterkunftskosten und die zeitlichen Verzögerungen bei den Wohnungsbewerbungen durch die Zustimmungspflicht der Jobcenter gegenüber anderen Wohnungsbewerber/innen benachteiligt. Auch im privaten (Unter)Vermietungsgeschäft sind ärmere Haushalte etwa durch das Angebot von teilweise üppigen Vermittlungsprämien einem ungleichen Wettbewerb ausgesetzt.

6. Sozialorientierte Stadtpolitik heißt Dekommodifizierung und Vergesellschaftung

Welche Schlussfolgerungen sind aus diesen Bedingungen der Wohnungsversorgung zu ziehen – welche Voraussetzungen hat eine soziale Stadtpolitik?
Ganz allgemein lässt sich das Programm einer sozialen Organisation der Wohnungsversorgung als Dekommodifizierung und Vergesellschaftung beschreiben.

Dekommodifizierung also das Herauslösen der Wohnungsversorgung aus den Marktlogiken kann dabei als Ziel und Maßstab für die Bewertung wohnungspolitischer Programme und Regelungen verstanden werden. Ganz grundsätzlich lassen sich drei zentrale Steuerungsmedien für einen staatlichen bzw. kommunalen Eingriff in die Wohnungsversorgung benennen:

  • Geld (z.B. Förderprogramme, die langfristig preiswerte Wohnungen sicherstellen oder Belegungsbindungen aus den Wohnungsmärkten herauslösen. Notwendig wäre meines Erachtens eine Diskussion über einen Neuen Sozialen Wohnungsbau)
  • Recht (Mietrecht, Baurecht, Städtebaurecht können durch Auflagen und Genehmigungsvorbehalte auch soziale Ziele fixieren – in der Praxis wird jedoch meist eine Liberalisierung der gesetzlichen Regulationsinstrumente durchgesetzt)
  • Eigentum (Eigentum an Grundstücken z.B. für einen preiswerten (Miet)Wohnungsbau nutzen; kommunale Wohnungsbestände für eine soziale Wohnungsversorgung benachteiligter Haushalte nutzen – auch hier weist die Praxis der Privatisierung und Ökonomisierung leider ins Gegenteil einer sozialen Stadtpolitik)

Als zweiten Aspekt einer sozialorientierten Stadtpolitik hatte ich das Stichwort der Vergesellschaftung benannt. Gemeint ist damit zunächst vor allem die Entmachtung der beschriebenen Immobilien-Verwertungs-Koalitionen und eine Re-Politisierung der Stadtpolitik im Sinne einer gemeinsamen und öffentlichen Debatte und Entscheidung über gemeinsame und öffentliche Belange.

In einer weitergehenden Perspektive kann Vergesellschaftung auch als die Übernahme der Verfügungsgewalt von Wohnungen in eine Bewohnerselbstverwaltung verstanden werden. Modelle für solche Selbstverwaltungsstrukturen gibt es bisher nur in den gesellschaftlichen Nischen von Wohnprojekten (wie z.B. dem MietshäusersyndikatMietshäuser Syndikat) die durch ein hohes Maß an kultureller und sozialer Exklusivität gekennzeichnet sind. Hier gilt es verallgemeinerbare Perspektiven zu entwickeln.

In der Praxis einer sozial orientierten Stadtpolitik werden Dekommodifizierung und Vergesellschaftung nicht auf einen Schlag durchsetzbar sein. Als Maßstab des eigenen Handelns bieten sie jedoch eine sinnvolle Orientierung bei der Formulierung von Forderungen und Vorschlägen und Programmen.


Antworten

  1. Vielen Dank für den Crashkurs, habe aber einen Lapsus gefunden und zwar heißt das: „Mietshäuser Syndikat“. Auf diese Schreibweise bestehen wir….nichts für ungut.

  2. […] gentrificationblog bietet einen „crashkurs“ in wohnungökonomie zum nachlesen […]

  3. Hallo AH,

    bitte erkläre mir doch einmal folgende Statements von dir bzw. die Zitate:

    1)“Steigende Mietkosten ohne Aussattungsverbesserungen etwa werden von vielen Bewohner/innen als auseinanderklaffende Schere zwischen Gebrauchswert und Tauschwert empfunden. “ – Da kann ich nur sagen: hallo Mieter, bitte aufwachen! Bei dieser recht kurzfristigen Betrachtungsweise wird die allgemeine Inflation nicht betrachtet. Bei einer gesunden Inflationsrate von 2-3% muss diese natürlich auch bei den Mieten gezahlt werden. Man bekommt die Schrippen auch nicht mehr für 10 Pfennig oder den Lieter Diesel für 1,20 DM. Insofern bitte über stetige Steigerungen nicht beschweren, es sei denn der Immobilieneigentümer ist ein Wucherer. Wo taucht denn diese Betrachtung in der Gentrifizierungsforschung auf?

    2)“Wegen der hohen Erstellungskosten von Wohnungen oder auch Bürogebäuden zirkuliert der Wert von Immobilien „in eigentümlicher Weise“ (MEW 24: 160).“…sehr merkwürdige Äußerung! Auch die nachfolgende Erklärung finde ich dürftig und unverständlich, kannst du das noch mal erläutern? Wieso wird der Wert bruchweise übertragen? Kauf ich ein Mietshaus muss ich das (egal ob cash oder über die Bank) mit einem Schlag bezahlen, genauso bekomme ich die Kohle auch wenn ich es wieder verkaufe. Genauso wie beim Auto oder der Waschmaschine. Natürlich abhängig vom Zustand zum Verkaufszeitpunkt (gilt auch für den PKW etc.). Ich sehe da keinen Unterschied außer das die Summen höher sind. Was wir hier haben ist die ganz normale Nachschuldnersituation von Gegenständen wie in allen kapitalistischen Systemen. Egal ob Kaugummi oder hochherrschaftliches Schloss.

    3)“Aus der ökonomischen Struktur der Grundrenten heraus kann erklärt werden, warum es einen systematischen Mangel an preiswerten Wohnungsgelegenheiten gibt.“…nicht nur. Wenn man an Prekariatsangehörige vermietet ist die Mietausfallwagnis viel höher als als bei einem berufstätigen mit entspr. Einkommen. Unter der Betrachtung der Mietausfallwagnis sind auch die geringeren Reinvestitionen in Harz IV-Arealen zu sehen. Plus der persönliche Mehraufwand….

    4)“weil die Anlagen ins sogenannte Beton-Gold als relativ sicher galten“ – Trugschluss dem proffessionelle Immobilienanleger nicht unterliegen. Ich empfehle dir mal die nähere Betrachtung des Lastenausgleichsgesetzes, seine Auswirkungen bis in die 70er Jahre im Hinblick auf Immobilien. Dieses Risiko besteht jederzeit wieder, da Immobilien über das Grundbuch eindeutig zuordnungsfähig sind. Beim Game Over wird sich der Staat seinen Teil holen. Auch dieses Risiko muss mit eigenen Rückstellungen abgefedert oder minimiert werden.

    5) Kannst du bitte „Darüber hinaus würden aber auch funktionstüchtige Verteilungsfunktionen des Wohnungsmarktes das Problem der ‘sozialen Blindheit’ nicht überwinden.“ bitte mal näher definieren?

    Viele Grüsse,

    MBE

    • Lieber MBE,

      vielen Dank für deine ausführlichen Fragen – leider hab ich meist viel zuwenig Zeit, mich mit deinen Anmerkungen auseinanderzusetzen – vielleicht auch, weil vieles eine tiefergehende Diskussion erfordern würde. Trotzdem ein paar Gedanken in aller Kürze:

      1)“Steigende Mietkosten ohne Aussattungsverbesserungen etwa werden von vielen Bewohner/innen als auseinanderklaffende Schere zwischen Gebrauchswert und Tauschwert empfunden. “ – Da kann ich nur sagen: hallo Mieter, bitte aufwachen! Bei dieser recht kurzfristigen Betrachtungsweise wird die allgemeine Inflation nicht betrachtet. Bei einer gesunden Inflationsrate von 2-3% muss diese natürlich auch bei den Mieten gezahlt werden. Man bekommt die Schrippen auch nicht mehr für 10 Pfennig oder den Lieter Diesel für 1,20 DM. Insofern bitte über stetige Steigerungen nicht beschweren, es sei denn der Immobilieneigentümer ist ein Wucherer. Wo taucht denn diese Betrachtung in der Gentrifizierungsforschung auf?

      Die subjektive Wahrnehmung des Auseinanderfallens von Gebrauchs- und Tauschwert der Wohnung ist in der Tat im Text ein bisschen verkürzt (und vielleicht auch missverständlich) umschrieben. Im Vortrag selbst habe ich Mietsteigerungen (und die können ja auch über dem Ausgleich der Inflationsrate liegen) als ein Beispiel dafür angeführt. Aber auch bei Neuvermietungen gibt es ja immer mal wieder Situationen, dass eine Wohnung aus der Mieterperspektive als „zu teuer“ empfunden wird, oder „für den Preis eine bessere Ausstattung oder Qualität“ erwartet wurde. Für die Gebrauchswerteigenschaften einer Wohnung gibt es keine eindeutigen Kriterien, vielmehr unterliegen sie den sehr unterschiedlichen Wohnpräferenzen der Mieter/innen. Die eine will unbedingt einen Balkon, wenn sie viel Geld für die Wohnung bezahlt, ein anderer ein Gästeklo oder einen Aufzug. Auch die Bereitschaft Ausstattungs- und Instandsetzungsmängel zu akzeptieren, variiert zwischen den einzelnen Mieter/innen. Letztendlich ist es ein bisschen wie mit den Schrippen, bei denen die meisten auch nicht 50 Cent für eine billige Aufbackvariante im Supermarkt bezahlen würden – weil sie diesen Preis nicht für gerechtfertigt halten.
      Mietsteigerungen im Kontext der Gentrificationforschung werden vor allem im Zusammenhang mit Verdrängungsprozessen beschrieben, also in Zusammenhängen, bei denen die Mietsteigerungen die Zahlungsfähigkeit der aktuellen Bewohner/innen übersteigt. In der Regel geht es da um höhere Steigerungen als den von dir angeführten Inflationsausgleich. Für die Sanierungsgebiete in Prenzlauer Berg (Berlin) etwa habe ich die Mietentwicklung in 1990er Jahren untersucht: zwischen 1995 und 2004 wurden allein über die Ausschöpfung der Erhöhungsmöglichkeiten nach dem Miethöhegesetz die Mieten durchschnittlich um 50 Prozent erhöht. Nicht berücksichtigt dabei die modernisierungsbedingten Mieterhöhungen nach Sanierungsmaßnahmen. Etliche Haushalte, die sich nach einer Modernisierung die Miete gerade noch so leisten konnten, mussten nach der ersten Mieterhöhung nach Modernisierung ausziehen, weil es zu teuer geworden war. Von solche drastischen Mietsteigerungen sind vor allem Gebiete betroffen, die im gesamtstädtischen Vergleich deutlich unterdurchschnittliche Mieten aufwiesen. Oft sind das schlechte Wohnlagen, die von denen bewohnt werden, die sich aufgrund ihrer Einkommenssituation keine ‚besseren‘ Wohnungen leisten können. Mieterhöhungsspielräume und geringe Zahlungsfähigkeit der Haushalte lösen so eine erhebliche Verdrängungsdruck aus.

      2)“Wegen der hohen Erstellungskosten von Wohnungen oder auch Bürogebäuden zirkuliert der Wert von Immobilien „in eigentümlicher Weise“ (MEW 24: 160).“…sehr merkwürdige Äußerung! Auch die nachfolgende Erklärung finde ich dürftig und unverständlich, kannst du das noch mal erläutern? Wieso wird der Wert bruchweise übertragen? Kauf ich ein Mietshaus muss ich das (egal ob cash oder über die Bank) mit einem Schlag bezahlen, genauso bekomme ich die Kohle auch wenn ich es wieder verkaufe. Genauso wie beim Auto oder der Waschmaschine. Natürlich abhängig vom Zustand zum Verkaufszeitpunkt (gilt auch für den PKW etc.). Ich sehe da keinen Unterschied außer das die Summen höher sind. Was wir hier haben ist die ganz normale Nachschuldnersituation von Gegenständen wie in allen kapitalistischen Systemen. Egal ob Kaugummi oder hochherrschaftliches Schloss.

      Marx beschreibt einen (kapitalistischen) Produktionsprozess als Zirkulation von Kapital. Der Wert des Kapitals wird idealtypisch im Produktionsprozess auf Ware übertragen und fließt über den Verkauf (mit einer entsprechenden Gewinnmarge) zurück. Während Rohmaterialien und auch die Arbeitskraft dabei als flüssiges oder ‚zirkulierendes Kapital‘ bezeichnet wird, die vollständig in jeden Stückpreis eingehen, wird von ‚fixen Kapital‘ gesprochen, wenn der Wert von Arbeitsmitteln jeweils nur ‚bruchweis‘ in den Stückpreisen abgebildet werden. Dein Schrippenbeispiel aufgreifend, gehen in den Preis die Zutaten, die Arbeitskraft des Bäckers und vielleicht die Transportkosten (als zirkulierendes Kapital) unmittelbar und in voller Höhe in den Preis ein, während die Kosten für den Backofen und die Bäckerei (als fixes Kapital) nur zu einem Bruchteil in den Preis der einzelnen Schrippe eingehen. Bis sich der ganze Ofen amortisiert, müssen viele Schrippen verkauft werden. Versuchen wir dieses Beispiel auf die Wohnungswirtschaft zu übertragen, dann ist ein Mietshaus für eine Einzeleigentümer/in oder eine Wohnungsbaugesellschaft (die es Vermieten wollen) vor allem eine Investition in ‚fixes Kapital‘, dass sich durch die ‚bruchweise‘ Zahlung der Miete erst nach vielen Jahren amortisiert. Fixes Kapital ist letztendlich für lange Zeit vorgeschossenes (und oftmals räumlich gebundenes) Kapital. Anders als der Bäcker etwa, der die Herstellungskosten der Schrippen über eine billigere Mehlsorte oder die Kürzung der Löhne für seine Lehrlinge variieren kann, sind die Kosten für das einmal erworbenen Mietshaus für lange Zeit relativ fix.

      3)“Aus der ökonomischen Struktur der Grundrenten heraus kann erklärt werden, warum es einen systematischen Mangel an preiswerten Wohnungsgelegenheiten gibt.“…nicht nur. Wenn man an Prekariatsangehörige vermietet ist die Mietausfallwagnis viel höher als als bei einem berufstätigen mit entspr. Einkommen. Unter der Betrachtung der Mietausfallwagnis sind auch die geringeren Reinvestitionen in Harz IV-Arealen zu sehen. Plus der persönliche Mehraufwand….

      Ja, da benennst du noch weitere Gründe, warum sich eine Investition in einen preiswerten Mietwohnungsbau aus einer ökonomischen Perspektive nicht lohnt. Aber deine Anmerkungen verstärken ja die das Argument eher noch, dass es ‚aus der Marktlogik heraus‘ nur wenige Motivationen für den Bau und die Bewirtschaftung von preiswerte Wohnungen gibt.

      4)“weil die Anlagen ins sogenannte Beton-Gold als relativ sicher galten“ – Trugschluss dem proffessionelle Immobilienanleger nicht unterliegen. Ich empfehle dir mal die nähere Betrachtung des Lastenausgleichsgesetzes, seine Auswirkungen bis in die 70er Jahre im Hinblick auf Immobilien. Dieses Risiko besteht jederzeit wieder, da Immobilien über das Grundbuch eindeutig zuordnungsfähig sind. Beim Game Over wird sich der Staat seinen Teil holen. Auch dieses Risiko muss mit eigenen Rückstellungen abgefedert oder minimiert werden.

      Guter Hinweis. Ich habe das Beton-Gold-Argument aber vor allem genutzt, um zu zeigen, dass Investitionen in den Wohnungsbau mit anderen Anlageoptionen konkurrieren. Ob die Risiken von Investitionen in den Hausbesitz tatsächlich und dauerhaft geringer sind als in andere Bereiche kann ich gar nicht einschätzen. Die steigenden Umsätze des Immobilienmarktes in Deutschland in den letzten zwei Jahren können jedoch als Hinweis verstanden werden, dass Investor/innen aktuelle die Risiken dort geringer einschätzen als in anderen Anlagebereichen.

      5) Kannst du bitte „Darüber hinaus würden aber auch funktionstüchtige Verteilungsfunktionen des Wohnungsmarktes das Problem der ‘sozialen Blindheit’ nicht überwinden.“ bitte mal näher definieren?

      Der Begriff der ’sozialen Blindheit‘ des Marktes hab ich mir von Stefan Krätke entliehen. Er beschreibt – wie im Text kurz angedeutet – die Funktionsweisen eine idealtypischen Markte als ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Für gesellschaftliche Bedarfe und Notwendigkeiten (wie z.b. die Versorgung von Obdachlosen mit Wohnungen oder die Einhaltung bestimmter ökologische Standards) gibt es aber nicht immer eine (zahlungsfähige) Nachfrage. Sie müssen deshalb regelmäßig über externe Auflagen und Gebote eingefordert werden. Ganz platt ausgedrückt ‚der Markt‘ fragt nicht danach wer eine Wohnung braucht, sondern wer was für eine Wohnung zahlen kann. Auf der Diskussion in Hamburg wurde vom Vertreter der Stadtentwicklungsbehörde beschreiben, wie die Stadt versucht über den Ankauf von Sozialbindungen und geldwerte Anreize die Unterbringung von bestimmten Personengruppen sicherzustellen, die sich am Markt nicht selbst mit Wohnungen versorgen können. Abstrakt gesprochen versucht der Staat damit die Marktposition von benachteiligten Haushalten zu verbessern, um die ’soziale Blindheit‘ zu überwinden.

      Soweit ein paar Stichworte zu deinen Fragen und Anmerkungen.

      Beste Grüße,

      Andrej Holm

      • Huhu AH,

        noch mal ein paar Anmerkungen:

        1. Ein ca. 60%iger Anstieg (von den 50% Mieterhöhung, d.h. 30% der Ursprungsmiete) ist bei deinem Beispiel auf den Inflationsausgleich zurückzuführen (gerechnet 3% p.a. bei Zinseszinsberechnung. Insofern sehe ich für diesen Punkt schon eine große Relevanz, der aber immer gerne verschwiegen wird. Wir haben uns bei den Grundbedürfnissen gerade im Bereich der Lebensmittel an deflationäre Tendenzen gewöhnt. Dies auf die Wohnungs- und Energiewirtschaft zu projezieren ist falsch, die meisten Menschen neigen aber nach meiner Beobachtung dazu. Die Inflation ist nun mal Bestandteil unseres Wirtschaftskonzeptes, sonst hätten wir viel schneller ein Game-Over im System. Sozusagen der zeitliche Streckungsfaktor 😉

        2. Das drastische Mietsteigerungen gerade bei unterdurchschnittlichen Mieten auftreten halte ich nur in Nachfragearealen für gegeben (Vermietermarkt). Hast du hier Zahlen für die eher unbeliebteren Ecken (Rudow, Marzahn, Hellerdorf, Bukow etc.)?

        3. Kalle ist für mich hier nicht nachzuvollziehen. Diese bruchweise Zahlung hast du bei allen langlebigen Gütern, jedoch wird der Kapitalfluss nicht unterbrochen, da du das Gut immer (teils finanziert) zahlen musst. Das Kapital ist auch nicht verschlossen sondern lediglich angelegt, genauso wier beim Sparbuch. Ich kann das Haus ja jederzeit weiterverkaufen. Genauso wie der Bäcker eventuell eine billigere Mehlsorte nimmt kann der Eigentümer auch Unterhaltsleistungen am Haus strecken (geht zwar zu lasten der Bausubstanz hilft aber dem eigenen Portemonaie auf kurze Sicht) um ggf. „billiger“ anzubieten/vermieten. In beiden Fällen ist aber auch der Kunde der in den Arsch gekniffene: Ich bekomme Luft-Schrippen oder eine Bruchbude.

        4. Sorry, aber den Begriff „soziale Blindheit“ halte ich für Bullshit. Ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage kann es niemals geben, bzw. immer nur in einer kurzen Übergangsfrist wo sich Produktionskapazitäten und Nachfrage zufällig gerade ausgleichen. Angebot und Nachfrage bestimmen sich gegenseitig und regulieren sich ein. Erst hat man ein Produkt, alle wollen es, die Fabrik kann nicht genug produzieren, Preise sind hoch, andere Produzenten kommen auf den Markt, Preise Sinken, kurzzeitig ausgeglichene Levels zwischen Angebot und Nachfrage, Produktion über steigt Nachfrage, Preise weiter runter, Produktionsstättenschließungen und dann geht das Spielchen von vorne los. Ohne diese Marktregularien wäre das leben unbezahlbar (Monopolstellungen) und davon profitiert jeder von uns. Nachfrage und Angebotsausgleich würden unsere Gesellschaft killen. Ist zwar ne schöne Vorstellung (genauso wie der Kommunismus) nur es funktioniert nicht, da der Mensch anders tickt. Bei deinem Beispiel der Obdachlosen: Es muss keiner auf der Strasse sitzen, nur er kann sich nicht aussuchen nun gerade im Prenzlauer Berg zu wohnen. Die Gesellschaft sorgt
        in der Solidargemeinschaft halt nur für die Grundbedürfnisse, sonst wäre das System nicht finanzierbar. Diese „soziale Blindheit“ ist systemimmanent als Selbstschutz und kann nur abgemildert werden.

        Beste Grüsse,

        MBE

        PS: Wenn du mal nach HH kommst und Zeit + Lust auf eine Diskussion hast lade ich dich zu einem Bierchen ein (ist ernst gemeint).

  4. Sehr geehrter Herr Holm,

    wir würden gern ihren Artikel mit dem Quellennachweis und der entsprechenden Link „Anmerkungen zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung“ auf unserer Webseite veröffentlichen und bitten um ihr ok.

    Die junge Stadtteilinitive Gaarden ist ein im Moment schnell wachsendes Bündnis von Menschen aus ganz unterschiedlichen Bezügen, die sich zunächst gegen die Schließung eines Freibades im Stadtteil Gaarden in Kiel formiert hat, das dort eine wichtige soziale Funktion erfüllt.
    Dabei wurde rasch sichtbar, dass das demnächst verabschiedete integrierte Stadtentwicklungskonzept der Stadt Kiel (http://www.kiel.de/Aemter_61_bis_92/61/konzepte/INSEKK/INSEKK_2010_Internet_120410.pdf) im Zusammenhang mit der Innenstadtentwicklung massive Gentrifizierungsprozesse im Stadtteil einleitet. So werden Fördergelder dort hingeleitet, mit denen „Zeichen gesetzt“ werden und ein Wirtschaftsbüro eröffnet.

    Mit freundlichen Grüßen

    Joachim Böse
    Kiel

    • Lieber Joachim Böse,

      alle Beiträge sind frei verfügbar, in der Seitenspalte finden Sie unter dem Stichwort Copyleft einen Link zu den Veröffentlichungsedingungen des CreativeCommons (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/). Viel Erfolg mit Ihrer Stadtteilinitiative!

      Beste Grüße,

      Andrej Holm

  5. […] Freundlicherweise hat Andrej Holm uns erlaubt sein Vortragsmanuskript zu spiegeln. Danke! Anmerkungen zur Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung Vortragsmanuskript von Andrej Holm für die Veranstaltung Hamburg! Gerechte Stadt. | Hamburg wächst – alle dabei? am 21.09.2010 in Hamburg (centro sociale) Quelle […]

  6. Sehr geehrter Herr Dr. Holm,

    ich habe den küchenradio-Podcast vom 21. Juli 2010 mit Ihnen gehört und eine zentrale Frage, die ich mir im Zusammenhang in der Gentrifizierungsdiskussion seit langem stelle und leider bisher nicht beantworten konnte, ist offen geblieben:

    Mich würde interessieren inwieweit Sie die Neuerrichtung von Immobilien einordnen. Der klassischen Volkswirtschaftslehre nach stellen Neubauten ein zusätzliches Angebot an Immobilien dar und dürften demnach an sich eher zu sinkenden als zu steigenden Mieten führen. Bei Luxusimmobilien dürften diese die Nachfrage in diesem Segment abfangen und den „Aufwertungsdruck“ auf reguläre Immobilien senken. Die Mieten in der Berliner Innenstadt könnten demnach dadurch stabilisiert werden indem der Immobilienneubau – auch der Luxusimmobilienneubau forciert wird und die aufgrund des Berliner Wirtschaftswachstums (oder anderen Gründen) zuwandernden „Besserverdienenden“ teilweise am Berliner Bestandsimmobilienmarkt vorbeigeführt werden. Wie ist ihre Meinung zu der Bauverdichtung – welche im Grunde eine Baurückverdichtung ist, da im Krieg entstandene Baulücken geschlossen werden. Als historischen Einschub möchte ich anmerken das vor dem Groß-Berlin Gesetz von 1920 Berlin 1,9 Millionen Einwohner hatte, in den entsprechenden Bezirken (Bezirk Mitte, Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Ortsteil Prenzlauer Berg) heute (31. Dez 2009) jedoch nur 744.595 Menschen leben. Wobei natürlich dinge anzumerken ist wie steigende Quadratmeterzahl pro Einwohner, mehr Gewerbeflächen, aber auch geringere Industrieflachen. Wie sind unter diesen Aspekten Projekte wie die Marthashöfe, Kastaniengärten oder das Car-Loft-Haus in Kreuzberg Ihrer Meinung zu werten? Sind sie, aufgrund von Besonderheiten im Immobilienmarkt, Katalysatoren bzw. Teil der Gentrifizierung? Oder sind sie zwar Zeugen dieser Entwicklung einerseits aber auch eine Bremse für diese?

    Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.

    Mit freundlichen Grüßen

    Enzo Aduro

    • Lieber Enzo Aduro,

      das vor dir beschriebene Argument kommt regelmäßig, wenn es um Neubauten geht und greift auf die sogenannte Filtering-Theorie zurück, die davon ausgeht, dass die Besserverdienenden immer in die besseren und neueren Wohnungen ziehen und ihrer bisherigen Behausungen für die nächste Einkommensgruppe frei machen, in deren Wohnungen dann wiederum diejenigen mit noch Bewohnerweniger Geld nachziehen können. Im Endeffekt sorgt der Neubau von teuren Wohnungen also dafür, dass es allen besser geht. Soweit die Theorie: in der Praxis gibt es aber auf städtischen Wohnungsmärkten keine vollkommene Mobilität – so dass simple Angebots-Nachfrage-Modelle nicht greifen.
      Es gibt auch nur wenige Beispiele dafür, das Wohnungen billiger werden, wenn ein Teil der bisherigen/innen in bessere Bestände und Nachbarschaften aufsteigen. Die Entlastung von Neubauten gilt also nicht für die Bestandsmietentwicklung sondern verringert allenfalls die Konkurrenz um Neuvermietungen.
      Die unmittelbaren Nachbarschaftseffekte von Neubauten habe ich am Beispiel von eigentumsorientierten Baugruppen als Schließung des lokalen Wohnungsangebotes (relative Verringerung preiswerter Wohnungen) und Mitnahmeeffekte durch die Bodenwertsteigerung beschrieben (https://gentrificationblog.wordpress.com/2010/09/18/berlin-baugruppen-mit-gentrification-garantie/). Für Luxusneubauten gilt dies umso deutlicher und wird in den internationalen Forschungsdebatten unter dem Begriff der ’new-build-gentification‘ diskutiert.

      Soweit eine kurze Antwort auf die Frage,

      Andrej Holm

      • Sehr geehrter Herr Holm,

        natürlich muss das Gesamtumfeld betrachtet werden. Berlin war zum Zeitpunkt des Mauerfalls eine Stadt mit sehr vielen Geringverdienern da diejenigen die „Karriere“ machen wollten nach Westdeutschland gezogen sind – bzw. im Ostteil, weil die Bürger der DDR in dieser schwer Weohlstand bilden können.
        Nun ist Berlin jedoch die Hauptstadt der Republik mit einer wachsenden Wirtschaft und insbesondere einem wachsenden Angebot an Arbeitsplätzen für höherqualifizierte Bürger. Leider können viele Berliner daran nicht partizipieren da sie nicht über eine entsprechende Qualifikation/Berufserfahrung verfügen und weil die Unternehmen ihre Mitarbeiter oft auch „Mitbringen“.
        Die Frage die sich nun bei der Bewertung von Neubauten meiner Meinung nach stellt ist diejenige ob sie den Bestandsmietern hilft oder nicht. Meine These ist das Nachbebauung hilft, da sie das Angebot ausweitet. Die Nachfrage steigt (Stadtweit bzw. Innenstadtweit gesehen) sowieso. Daher ist es für einen Bestandsmieter am besten wenn die „Neuberliner“ in Neubauten ziehen als in ihre Bestandswohnungen. Denn wie Sie treffend festgestellt haben wohnen Reiche da wo sie möchten und Arme dort wo sie müssen. Dies trifft aber auf quasi alle „knappen Güter“ zu. So war früher Stör-Kaviar eine Armenspeise, heute ist es eine Delikatesse.
        Aber ist es nicht möglich diesen Konflikt abzumildern? Oder um dem ein Gesicht zu geben: Ich studiere jetzt zwar im Süden Deutschlands, komme aus Kreuzberg, nähe Görlitzer Bahnhof – also dort wo angeblich (ich möchte das jetzt auch nicht in Zweifel ziehen) die Neuvermietungsmieten prozentual gesehen die höchste Steigerung der gesamten Republik haben. Der Grund ist weil es „hip“ ist und auch recht zentral. Aber ich möchte einfach nicht Verstehen das dort „verdrängt“ werden muss, während ich aus meiner Erinnerung und auch auf Google-Maps lauter Baulücken und Feuerwände ohne Fenster sehe, wo vor dem Krieg überall Häuser standen? Wenn es jetzt wieder die Nachfrage nach Wohnraum in Kreuzberg gibt, warum wird er einfach nicht in die Hinterhöfe gebaut? Bzw. warum meinen Sie das dies nicht hilft? Das die früheren Quadratmeterpreise von 5 Eur etc. nicht möglich sind mag ja sein. Denn unter diesen Konditionen löhnt es nicht zu bauen, man bekommt einfach nicht die Zinsen rein. Aber bei 10 Euro schaut das anders aus. Und durch Neubauen kann man vielleicht dafür sorgen das es auch nur auf 10 Euro steigt – und nicht auf 15. Da wäre vielen geholfen. Und durch die Verhinderung von Sanierungsmaßnahmen kann man ja auch verhindern das die Mieten in den Bestandshäusern stark steigen. Durch die Erleichterung des Neubauens kann man aber auch die Nachfrage nach teuren Wohnungen „umleiten“.
        Daher scheint es mir so das die Verhinderung von Neubauten die Gentrifizierung (zumindest innenstadtweit gesehen) beschleunigt und nicht verlangsamt. Mag sein das es im direkten Umkreis gesehen auch andere tendenzen gibt.

        PS: Die Theorie des „Weiterziehens“ der reicheren in teureren Wohnraum funktioniert auch in der Praxis, allerdings nur in Städten die keine Dynamik haben -diese sind aufgrund der Reurbanisierung, dem Einwohner und insbesondere Haushaltswachstum aller Großstädte-, auch sehr selten. Dresden und Leipzig und viele andere Städte in Ostdeutschland sind hier ein Beispiel.

        Mit freundlichen Grüßen

        Enzo Aduro

      • Hallo Enzo,

        ich denke du musst auch berücksichtigen, dass der Nachfragedruck in die Innenstadtteile ungleich höher ist als der Neubau Flächen zur Verfügung stellt. Du müsstest meiner Meinung nach schon flächendeckend und schnell ALLE alten Weltkriegslücken füllen, um einen sinkenden Mietpreis zu erreichen. Wenn du bei Neubauten dann auch noch den Mietpreis bei 10€ deckeln willst wird das unrealistisch. Der Nachfragedruck wird meiner Meinung nach auch noch weiter steigen, da die Mittelschicht einen Teil der höheren Mieten über geringere Fahrtkosten zur Arbeit kompensieren kann und durch einen zeitlich kürzeren An- und Abfahrtsweg „Lebenszeit“ besser nutzen kann.
        Flächendeckende innerstädtische Baulückenschließung könntest du (wenn es schnell gehen soll) nur durch finanzielle Anreize auslösen. Dazu hat Berlin aber nunmal keine Knete. Insofern schätze ich mal, dass die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten in die Randbezirke weiter voranschreiten wird. Dies ist ja für die Mittelschicht auch angenehm, da die Problemfälle quasi „ausgelagert“ werden und man sich dann halt in den betroffenen Ghettos als Mittelschichtsangehöriger halt nicht aufhält. Aus den Augen aus den Sinn….

  7. Sehr geehrter MBE,
    ich beziehe mich nicht direkt darauf das man die Mieten zum sinken bringen kann. Sondern ausschließlich darauf ob der „Miettrend“ sich durch Neubau erhöht oder verringert.
    Ich bin der Ansicht das Neubeu -auch von Luxuximmobilien- auf die Mieten Dämpfend wirkt. Auch übrigends wenn es Eigentumswohnungen sind. Denn wer im Eigentum wohnt, der mietet ja nicht. Des weiteren kaufen dich ja auch viele Eigentumswohnungen um die dann weiterzuvermieten, da Sie nicht genug für ein ganzes Haus haben, und Angst vor Inflation.

    Wenn man also der Meinung ist das Neubau dämfend wirkt dann sollte man nicht gegen Ihn demonstrieren. Vielleicht sind Luxuxneubauten Zeugen der Gentrifizierung. Aber die Bestellung von unfruchtbaren Böden ist ja auch Ausdruck steigender Lebensmittelpreise. Die Ernte hilft den Preis wieder zu senken. Auch wenn er nicht auf das ursprüngliche Niveau fallen wird.

    Die Flächendeckende Baulückenfüllung könnte man sicher auch schon durch ein paar Planstellen im Bausenat und liberalere Architekturvorschriften und fixe genehmigungen Anheizen. Da muss man nicht kofinanzieren. Auch die Beschränkung der Bauhöhe könnte man teilweise liberaler sehen, wenn jetzt nichts über Gebühr verschattet wird.

    Teilweise wird aber stattdessen gegen Neubauprojekte Demonstriert, sihe Flächen neben dem Volkspark, Mercedes“hoch“haus usw.

    Daher habe ich nach Herrn Holms Position gefragt, da er m.E. nicht gerade der glühenste Verfechter von Neubauten ist.

    Liebe Grüße


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