Verfasst von: ah | Februar 8, 2010

Berlin: „Brennende Autos“ und „Terror gegen Nachbarn“

‚Brennende Autos‘ haben sich in der lokalpolitischen Auseinandersetzung Berlins zum Mantra der pauschalen Kritik an Anti-Gentrification-Protesten entwickelt. Die nicht einmal von der Polizei verfolgte Kurzformel „Gentrification = Reiche = mehr teure Fahrzeuge = Protest gegen Aufwertung = Intoleranz = brennende Autos“ geistert seit Monaten in verschiedenen Variationen durch den Berliner Blätterwald. Die Berliner Justiz reagierte mit einem – in anderen Bereichen unbekannten – Ermittlungseifer und verhängte mehrfach monatelange Untersuchungshaft gegen Männer und Frauen, die sich vor allem dadurch verdächtig gemacht hatten, sich in ’szentypischer Kleidung‘ (Schwarze Klamotten, Kapuzenjacke) in der ‚Nähe der Tatorte‘ (Friedrichshain) aufgehalten zu haben (alle Inhaftierten mussten mittlerweile freigelassen werden). Im Vorfeld der Räumung eines besetzten Hauses in der Brunnenstraße 183 in Berlin-Mitte wurde via Bild sogar zur „Räumung der linken Terrornester“ aufgerufen.

Im Schatten der ‚brennenden Autos‘ – über 200 Brandstiftungen soll es im vergangenen Jahr gegeben haben – hat es inzwischen auch der „Terror gegen Baustellen“ in die Schlagzeilen geschafft. Polizeilichen Statistiken zu Folge soll es 2009  etwa 70 politisch motivierte Anschläge auf Baustellen und Baufahrzeuge gegeben haben. Auch hier scheinen die Schuldigen schnell gefunden: „Terror gegen Nachbarn: Neubaupropjekte im Visier von Linksextremen (video)“ (rbb-Klartext).:

Wer wünscht sich das nicht: Bezahlbares Wohneigentum in der Innenstadt? Immer mehr Familien machen diesen Traum wahr und schließen sich zu so genannten Baugruppen zusammen. (…) Für Linksautonome alles nur Yuppies. (…) Vor allem Baugruppen sind im Visier der Kritiker neben kommerziellen Investoren.

Ob die Baugruppendebatte für die aktuellen stadtpolitischen Proteste tatsächlich so einen herausgehobenen Stellenwert haben, sei dahin gestellt. Eine Darstellung der Baugruppen als preiswerte Alternative in der Innenstadt – wie es die Klartext-Autor/innen darstellen – geht jedoch meilenweit an der Realität vorbei. Verkürzte und tendenziöse Berichterstattungen wie der rbb-Beitrag tragen jedenfalls nicht zu einer Diskussion über eine wünschenswerte Wohnungspolitik bei, sondern dienen vor allem der  Diskreditierung von stadtpolitischen Protesten.

Eine im Neuen Deutschland dokumentierte Debatte zeigt, dass es auch anders geht:
Streitfrage: Linke Stadtpolitik – Sind brennende Autos noch Protest?„. Die Beiträge von Michael Kronawitter (ALB, LINKE), Dirk Behrendt (Grüne) und Henning Obens (Avanti) versuchen sich ohne  künstlich aufgeladenen Empörung dem Thema sachlich anzunähern. Die Spannbreite der drei Perspektiven und Einschätzungen ist dabei allemal fruchtbarer als eine reflexartig eingeforderte Distanzierung.

Michael Kronawitter („Klammheimliche Freude“) sieht eine Erklärung für die vielen Attacken auf Luxuswagen vor allem in der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich in der Stadt.

Jetzt brennen Autos, vorwiegend Luxuswagen. Erklären kann man das schon: Ein durchschnittlich ausgestatteter Porsche Cayenne kostet 130 000 Euro. Einer ALG-II-Bezieherin werden im Regelsatz für »Mobilität« monatlich 14,26 Euro zugestanden. Wenn sie diese Pauschale nun anspart, um sich einen derartigen fahrbaren Untersatz zu kaufen, müsste sie dies 760 Jahre lang tun. Der Erlebensfall ist also ausgeschlossen. (…) Es ist einfach der elende Zustand der Gesellschaft: Symbolisch stehen mit einem Porsche Cayenne neben dem armen Schlucker knapp acht Jahrhunderte Abstand zum guten Leben – abgeparkt am Straßenrand.

Dirk Behrendt („Munition für den Gegner“) fragt sich angesichts polizeilichen Einschätzung, dass nur etwa die Hälfte der Brandstiftungen einen politischen Hintergrund haben, ob überhaupt von Protest gesprochen werden kann. Im Zusammenhang mit den Debatten um die ‚brennenden Autos‘ betont er dahingegen die neue Höhenluft einer repressiven Ordnungspolitik.

Parallel zur Zunahme der Autobrände entzündete sich (im wahrsten Sinne des Wortes) eine von der CDU massiv beförderte Diskussion um linke Gewalt in der Stadt. Ich erinnere mich noch gut an den Diskussionsstand Ende 2008, als die CDU als einsamer Rufer nach mehr Repression gegen Links hausieren ging. Zyniker sahen in der Berliner CDU zeitweise gar den Pressesprecher der autonomen Szene, weil sie jede neue Brandstiftung zum Anlass von Presserklärungen und parlamentarischen Initiativen nahm.

Ganz den Leitzielen seiner Partei verpflichtet, kritisiert er auch die klimapolitischen Aspekte von Brandstiftungen.

So setzen brennende Autos erhebliche Mengen giftigster Schadstoffe frei. Die Fahrer von Luxuskarossen müssen sich zwar vorhalten lassen, dass ihr Verhalten das Klima erheblich belastet und keinesfalls zum Vorbild taugt. Um diese Autos zu entsorgen ist eine fachgerechte Verschrottung unter Nutzung der vielen wiederverwendbaren Materialien in jedem Fall besser als das unkontrollierte Abbrennen mitten in der Innenstadt.

Henning Obens („Brennendes Interesse an Spaltung“) schließlich bemüht Jan Delay für seine Argumentation, der vor dem G8-Gipfel Brandstiftungen als Aufmerksamkeitsgeneratoren beschrieb und darin ein Zeichen der politische Ohnmacht vermutet.

»Brennende Autos« sind auch ein Ausdruck rebellischer Gewalt gegen die Ohnmacht gegenüber der Politik. Die nun aber »fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen« (Adorno). Sie liegt für die Linke darin, die Entwicklungen der Gentrifizierung zu analysieren und Perspektiven und Strategien für eine linke Stadtpolitik zu erarbeiten.

update: fälschlicherweise hatte ich Henning Obens Attac zugeordnet. Dort ist er gar nicht organisiert, sondern bei Avanti-Projekt undogmatische Linke und der Interventionistischen Linken.


Antworten

  1. […] Michael Kronawitter (ALB) […]

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  3. […] bezirke in berlin dürfen bei binationalen paaren einen vaterschaftstest anfordern°°°sind brennende autos immer brennende autos, weil die anzündenden gegen gentrifizierung demonstrieren`? dieser frage wird in einem längeren text auf dem gentrification-blog nachgegangen°°° […]


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