Verfasst von: ah | Januar 5, 2013

Berlin: Es geht gar nicht um die Schwaben

Schrippen_Angelo

Schrippen, Wecken, Plaumendatschi. Was verrät uns die Bäckerei über die Aufwertung? (Bild: Angelo)

Die ganze Republik diskutiert über Wolfgang Thierses Jahresend-Interview. Doch das Peinliche daran ist nicht seine Haltung zu schwäbischen Backwaren, sondern die 10 Jahre Verspätung mit der er feststellt, dass die Veränderungen in Prenzlauer Berg „mit der Verdrängung also eine schmerzliche Rückseite“ haben. Schöner als Schwaben, die sich an die Berliner Schrippe gewöhnen, wären übrigens ein paar mehr Ostberliner in Prenzlauer Berg. Aber an dieser Stelle verfehlt Thierse den Kern des Gentrification-Problems. Mit seiner Beschränkung auf ausschließlich kulturelle Aspekte der Verdrängung hat er jedoch den altbekannten Mustern der Gentrification-Legitimation Tür und Tor geöffnet.

Statt über Verdrängung wird nun über die Intoleranz der Verdrängten diskutiert und die Gewinner der Aufwertung können mit dem Phantomschmerz der angeblichen Diskriminierung von ihrer Rolle an den Gentrifizierungsprozessen ablenken.

Eigentlich ist es ja nicht so schwer zu verstehen, dass Verdrängung Gewinner und Verlierer hervorbringt und sich der veränderte Nachbarschaftscharakter auch in der Gewerbestruktur und den Konsumangeboten widerspiegelt: Wo dem Latte-Galao-con-leche-Kult gefrönt wird, gibt es keine Eckkneipenkultur; wo Townhouses stehen, gibt es keine Sozialwohnungen und wo Wecken verkauft werden, gibt es keine Schrippen. Einige werden diese Veränderungen begrüßen, andere bedauern.

Erstaunlich ist, dass ausgerechnet und regelmäßig solche Meinungsäußerungen öffentliche Entrüstung auslösen, die den Verlust der Veränderungen beklagen. Fast scheint es, als sollen denen, die im Zuge der Aufwertung ihre Wohnungen oder zumindest ihr Lebensgefühl verloren haben, auch noch die Erinnerung und ihre Empfindungen abspenstig gemacht werden. Die Unzufriedenheit der Verdrängten und Alteingesessenen stört offensichtlich das gute Lebensgefühl der Neubewohner/innen. Gesucht werden die glücklich Verdrängten.  Spuren die nicht, wird die Keule der Intoleranz geschwungen.

Es geht gar nicht um Schwaben, sondern ums gute Gefühl der Aufwertung

Der „Schwabenhass“ scheint in Prenzlauer Berg ein Universalinstrument dieser Strategie der moralischen Dominanz zu sein: In regelmäßigen Abständen kocht die Debatte hoch. Egal ob ironische Plakate von Ostberliner/innen (2006), journalistische Erlebnisberichte aus der Latte-Macchiato-Zone (2011), die Sprühereien eines 18-Jährigen (2012), oder eben  Feiertagsinterview eines Bundestags-Vizepräsidenten (2013): Die Reaktion ist immer die gleiche. Die Feuilletons von Tagespiegel bis zu den Stuttgarter Nachrichten überschlagen sich mit Berichten und Kommentaren zum angeblichen Schwabenhass in Berlin und selbst in eigentlich seriösen Medien wird die Aufregung zur Abrechnung mit der Gentrification-Kritik genutzt.

Thierses Schrippen-statt-Kehrwochen-Statement wurde in die Nähe von Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz gestellt und Baden-Württembergs Politiker jeglicher Couleur  fühlten sich zu Stellungnahmen aufgerufen. Paradoxerweise wird die Replik in der selben regionalistischen Eigensinnigkeit vorgetragen wie die an Thierse kritisierte Verteidigung des Berliner Dialektes.  Cem Özdemir (Grüne) sagte dem Tagesspiegel:

„Und was den Berliner Dialekt angeht, hat sicher kein Schwabe etwas dagegen, dass er gepflegt wird. Wir pflegen unser Schwäbisch ja auch.“

Dieser Umgang klingt tolerant, wird aber den Realitäten in den Aufwertungsgebieten von Prenzlauer Berg nicht gerecht. Wo soll er denn hingehen, wo soll er denn den Berliner Dialekt pflegen? Das von Wolfgang Thierse vermisste Ostberlin der 1980/90er Jahre gibt es nicht mehr und er beklagt ja gerade das Verschwinden von Gelegenheiten zur Ausübung des Berliner Dialektes in seiner Nachbarschaft. Spiegel-Online bringt in einem Interview mit Wolfgang Thierse unfreiwillig die Konsequenz des Gedankens auf den Punkt:

SPIEGEL ONLINE: Mussten Sie sich bereits von der Seele Ihres Stadtteils verabschieden?

Thierse: In Teilen sicherlich (…). Alles hat sich sehr verändert. (…)  ich habe hier auch noch alte Bekannte und Freunde. Menschen, deren Gesichter ich auf der Straße erkenne, sind allerdings in den letzten Jahren weniger geworden.

SPIEGEL ONLINE: Warum ziehen Sie nicht um, irgendwohin, wo es mehr Berliner gibt?

Das gute alte „Geht doch rüber, wenn es euch hier nicht passt“ im Gewand der toleranzbesorgten Großstadt-Debatte. Lesebühnenleser, Kabarettist und Liedchensinger  Tilman Birr hat schon vor gut einem Jahr diese Seite der Aufregung treffend parodiert:

In einer Reihe von Beiträgen (Focus und Tagesspiegel) wurde Thierse auch dafür kritisiert, die Wecken und Pflaumendatschi fälschlicherweise der schwäbischen Küche zugeordnet zu haben. Auch Cem Özdemir mokiert die mangelnden Geografie-Kenntnisse von Thierse und thematisiert damit unbewusst eine zentrale Dimension der Verdrängungsdynamik in Ostberlin:

„Irgendwie sind alle Wessis Schwaben.“

Dass sich die Gentrification in Prenzlauer Berg unter quasi-kolonialen Verhältnissen (westdeutsche Hausbesitzer/Investoren/Stadtplaner vs. ostdeutsche Mieter/innen) vollzog, prägt auch die retrospektive Sicht auf die Veränderungen. Holger Witzel hat in seiner wirklich amüsanten Kolumne „Schnauze Wessi“ das Thema des Schwabenhasses bereits 2009 aufgegriffen. „Über die Ego-Terroristen vom Prenzlberg„:

In Berlin, Prenzlauer Berg, kleben sogenannte „Hass-Plakate“, die doch eigentlich ganz vernüftig sind und sich nicht nur gegen Schwaben, sondern gleichberechtigt gegen Wessis aller Art richten.

Und auch das Ostberliner Urgestein Flake (Musiker, früher Feeling B, heute Rammstein) macht aus seinem Herzen keine Mördergrube:


Antworten

  1. Reblogged this on thaelmannpark.

  2. Weg mit den Vorurteilen – sonst ändert sich nie was!
    Siehe hierzu nochmals KIEZMIEZ:

  3. […] 05.01. Es geht gar nicht um die Schwaben (Gentrification-Blog); […]

  4. Hahaha. Das Thema scheint wohl aktueller denn je zu sein. Selbst im hohen Norden kommt man nicht um „das Gentrifikationsproblem“ herum, doch hier sind die Übeltäter mehr die reichen Landherren aus dem Umkreis und Investoren aus dem Ausland. Schwaben habe ich hier zum Glück noch keine gesehen 🙂

  5. Das ist doch in allen Großstädten im Moment das Gleiche! In München sind`s die Zugroasten (sowieso alles Saupreißn), die ein Viertel nach dem anderen an sich nehmen. Wenn es auch nicht so offensichtlich geschieht wie in Berlin. Aber ganz ehrlich: Diese Diskussionen kann ich nicht mehr hören. War mal in Wedding bei nem Bäcker und die hat weder Brötchen noch Schrippen verstanden. Das ging dann nur mit ganz viel Mimik und Gestik. Aber na und: Für Multikulti kommen doch alle nach Berlin! Sicher auch mal ein Thierse vor 40 Jahren…

  6. Ist irgendjemandem da draußen schon mal aufgefallen, dass dieser Schein-Nikolaus eigentlich Semmel sagen müsste? Und das er mit seinem Bundestagsabgeordnetengehalt kein Problem hat mit steigenden Mieten am Kollwitzplatz? Und das er als SPDler Hartz IV mit verantwortet? Und das die Berliner SPD die Wohnungsbaugesellschaften verscherbelt hat? Aber solange Thierse seinen Filterkaffee mit Kaffeesahne trinkt ist er natürlich: ein armes, armes Gentrifizierungsopfer.

  7. […] Dominanz in Prenzlauer Berg, keine Buchveröffentlichung zu Müttern in Prenzlauer Berg und kein Thierse-Interview, sondern hässliche Parolen an den […]


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